Eine »Bankrotterklärung« der rot-grünen Bildungspolitik will Jürgen Rüttgers, Chef der nordrhein-westfälischen CDU und Bildungsminister im letzten Kabinett von Helmut Kohl, gesehen haben. Seine Amtsnachfolgerin Edelgard Bulmahn (SPD) fühlt sich dagegen in ihrer Politik »bestätigt«. Und die FDP bekräftigt erneut ihre Forderung nach einem »radikalen Subventionsabbau«. Offensichtlich läuft die Floskelmaschinerie wieder einmal auf Hochtouren.
Der Grund für die Aufregung: Am 14. September hatte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ihre neueste Untersuchung zum Bildungssystem in den Industrieländern vorgestellt; die Bundesrepublik schnitt ähnlich miserabel ab wie zuletzt bei PISA oder der Fußball-Europameisterschaft. Wohin die WissenschaftlerInnen der OECD auch blickten, überall sahen sie Deutschland höchstens im Mittelfeld, sei es bei den Bildungsausgaben, der Relation zwischen LehrerInnen und SchülerInnen oder bei der Anzahl der HochschülerInnen. Zusammenfassend lautet ihr Urteil, dass die BRD bildungspolitisch schlicht jahrelang gepennt hat. Während andere Länder ihr Bildungssystem rasant um- und ausgebaut hätten, habe in Deutschland in den Achtziger- und Neunzigerjahren »Stillstand« geherrscht, kritisierte Andreas Schleicher, OECD-Bildungsexperte und deutscher Koordinator der Studie.
»Deutschland hat einen enormen Nachholbedarf - aber keine Vision, wo es mit seinem System hin will«, sagte Schleicher gegenüber der taz. Während in anderen Ländern Bildung als wichtige Investition in die Zukunft angesehen werde, würde sie in der BRD »immer noch als Konsum wahrgenommen«. Schleicher kritisierte auch das dreigliedrige deutsche Schulsystem. Dieses sei »im internationalen wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr vermittelbar«. Seine KollegInnen seien es inzwischen leid, Studien über die komplizierte und ineffiziente deutsche Schule zu konzipieren.
Eines der Hauptprobleme des deutschen Bildungswesens liegt in der geringen Zahl der HochschülerInnen. Lediglich 35 Prozent eines Jahrgangs fangen ein Studium an einer Hochschule oder Fachhochschule an, nur fünf Prozent mehr als beim Tabellenletzten Tschechien. Im OECD-Durchschnitt liegt der Anteil dagegen bei 51 Prozent. Schon diese Quote aber liegt in weiter Ferne. Denn der Anteil der StudentInnen ist zwar seit 1998 von damals lediglich 28 Prozent gestiegen, jedoch erwerben in Deutschland nur 43 Prozent eines Jahrgangs überhaupt eine Hochschulzugangsberechtigung. Der Rest wurde größtenteils bereits in der vierten Klasse ins Kröpfchen sortiert, sprich in Haupt- und Realschule verbannt. Anders sieht die Lage etwa in Australien aus. Dort besuchen 77 Prozent eines Jahrgangs eine Hochschule. In Polen auf Platz fünf sind es immer noch 70 und in den USA auf Platz sieben 64 Prozent. »Das ist der Maßstab heute«, betont Schleicher.
In Deutschland wird jedoch überdurchschnittlich viel Geld für AkademikerInnen ausgegeben. 10500 Dollar im Jahr wendet das Land pro StudentIn auf, 500 Dollar mehr als im OECD-Schnitt. Dies schlägt sich zwar in der Anzahl der Promotionen nieder, die im Vergleich zu anderen Nationen im Spitzenfeld liegt, DurchschnittsstudentInnen profitieren davon jedoch nicht. Lediglich 19 Prozent eines Jahrgangs haben ein abgeschlossenes Hochschulstudium vorzuweisen, im OECD-Mittel liegt der Anteil bei 32 Prozent. Von dem vielen Geld sehen die meisten StudentInnen nichts. Denn eingerechnet sind hier auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, die immerhin 39 Prozent der Ausgaben pro StudentIn ausmachen.
Trotz hoher Ausgaben für die Elite liegen die Bildungsausgaben in Deutschland weit unter dem Niveau anderer Länder. Hier werden 5,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts privat oder öffentlich für Bildung ausgegeben. Deutschland ist damit im internationalen Vergleich weiter zurückgefallen. Der Durchschnitt der OECD-Länder liegt bei 6,2 Prozent. Mit an der Spitze liegen hier die Vereinigten Staaten mit 7,3 Prozent. Dort wird allerdings etwa ein Drittel der Bildungsausgaben privat finanziert. Mehr als sechs Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes investieren auch Australien, Belgien, Kanada, Frankreich, Norwegen und Schweden. Private Mittel spielen dort ebenso wie in Deutschland nur eine geringe Rolle.
Da von den unterdurchschnittlichen Ausgaben überdurchschnittlich viel an die Universitäten fließt, bleibt gerade für den so genannten Primärbereich, also Kindergärten und Grundschulen, wenig übrig. 4237 Dollar werden in Deutschland je GrundschülerIn und Jahr aufgewendet. Über 600 Dollar weniger als im Mittel der OECD-Staaten und deutlicher weniger als in den USA (7560 Dollar). Dazu geht das meiste Geld für Personalausgaben drauf, für Unterrichtsmittel gibt Deutschland so wenig aus wie kein anderes Land. Hinzu kommen im Vergleich große Klassen mit im Durchschnitt 19 SchülerInnen.
Ähnlich schlecht ist die Lage in den Kindergärten, die dazu noch eine überdurchschnittlich hohe private Finanzierungsquote haben. 38 Prozent der Kosten werden hier von den Eltern getragen, doppelt soviel wie andernorts üblich. Hier kommen im Schnitt 24 Kinder auf einen Betreuer oder eine Betreuerin. Der OECD-Schnitt liegt bei 15 - so viele sind es etwa in den USA. Spitzenreiter ist Dänemark mit 6,6 Kindern pro ErzieherIn.