Fundamentale Voraussetzung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union (EU) ist die Erfüllung der so genannten Kopenhagener Kriterien von 1993, die insbesondere institutionelle Stabilität, eine bestehende demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz von Minderheiten fordern. Für einen Beitritt selbst muss sich ferner eine funktionierende Marktwirtschaft gegen den Wettbewerbsdruck der EU behaupten können.
Während die 25 Mitgliedstaaten noch verhandeln, ist für die türkische Regierung die Entscheidung bereits gefallen. Sie will in die EU eintreten, will teilhaben und ist bereit, die damit verbundenen Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Den offiziellen Status einer Beitrittskandidatin hat die Türkei am 11. Dezember 1999 beim Gipfeltreffen der EU in Helsinki erhalten - vierzig Jahre nach ihrer Antragstellung auf Assoziierung. Im März 2001 verabschiedete das Parlament in Ankara ein Programm, das den Zeitplan für umfassende Reformen festlegte. Seitdem sind unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zahlreiche Neuerungen zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien auf den Weg gebracht und grundlegende Fortschritte im Reformprozess erzielt worden. Eckdaten dieser Veränderungen waren die Abschaffung der Todesstrafe im August 2002, die Aufhebung des Notstandsrechts im Südosten des Landes Ende 2002, die Genehmigung der öffentlichen Pflege von anderen Sprachen als Türkisch, insbesondere Kurdisch, seit Juni 2003, die Bekämpfung von Folter seit vergangenem Jahr sowie die erstmalige Zulassung eines christlichen Priesters Anfang dieses Jahres. Seit dem 7. Harmonisierungsprozess im Jahre 2003 sind ferner die Kompetenzen des Generalsekretariats und mithin des Militärs erheblich beschnitten, insbesondere durch den vollständigen Abbau einiger Abteilungen.
Man schätzt diese Fortschritte allgemein als beachtlich ein, wenngleich sie in dem 71,3 Millionen EinwohnerInnen zählenden Land mit regionalen Schwankungen ablaufen, wobei die großen Städte die Reformprogramme weit schneller umsetzen als das anatolische Hinterland, wo zum Beispiel arrangierte Ehen auch heute noch keine Seltenheit sind. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch oder die türkische Insan Haklari Dernegi verweisen jedoch auf Mängel, die es noch immer bei der Umsetzung der Reformen gibt.
Auch die türkische Wirtschaft befindet sich im Aufschwung. Ihre Wachstumsrate, die derzeit fast so hoch ist wie die chinesische, und insbesondere das Handelsvolumen mit EU-Mitgliedstaaten sind beachtlich. Deutschland ist dabei der wichtigste Handelspartner der Türkei, wobei sich laut statistischem Bundesamt im Jahr 2003 der Warenimport auf einen Wert von 7,2 Milliarden Euro und der Export auf fünf Millionen Euro beliefen. Dabei lag die Inflationsrate 2002 weiterhin bei 44,3 Prozent.
Im Juli 2003 gab es erneut ein deutliches Signal pro Europa, als die türkische Regierung 36 Airbus-Flugzeuge aus deutsch-französischer Produktion, hingegen lediglich 15 Maschinen beim US-Hersteller Boeing in Auftrag gab und somit geschickt Politik und Wirtschaft verband.
Um den Aufschwung in der Türkei europaweit zu beurteilen, dürfen jedoch nicht Nationen wie Deutschland und Frankreich als Vergleichswerte herangezogen werden. Diese repräsentieren spätestens seit der Osterweiterung der EU nicht mehr den europäischen Status quo. Verglichen mit Ländern wie Rumänien oder Bulgarien und auch den zehn 2004 beigetretenen Ländern, ist der Unterschied der Lebens- und Wirtschaftsstandards nicht so groß.
BefürworterInnen eines Türkei-Beitritts erwarten eine Verbesserung der militärischen und weltpolitischen Stellung der EU, die nicht nur auf der strategisch günstigen Lage des Landes beruht. Insbesondere Großbritannien und die USA wünschen sich daher die Türkei als Verbündete an der Schnittstelle zum Nahen Osten.
Ob all dies ausreicht, um den Europäischen Rat zu überzeugen, wird sich Ende des Jahres zeigen. Ein EU-Beitritt der Türkei, deren Bevölkerungszahl im Jahre 2012, dem frühesten Zeitpunkt eines tatsächlichen Beitritts, voraussichtlich 89 Millionen erreichen wird, würde nach derzeitigen Schätzungen ungefähr so viele Kosten verursachen wie die Erweiterungsrunde um die zehn mittel- und osteuropäischen Länder 2004. Ebenso würde ein Beitritt Ankaras in technischer und institutioneller Hinsicht eine Herausforderung für die EU darstellen.
In Deutschland lehnen CDU und CSU in Anbetracht der kulturellen, orientalischen Prägung der Türkei einen Beitritt ab. Ihnen schwebt eine privilegierte Partnerschaft vor, durch die die europäische Orientierung des Landes gefördert und eine noch stärkere politische und institutionelle Verknüpfung mit den Mitgliedstaaten stattfinden soll. Die FDP verweist auf die Beitrittspartnerschaft seit 1999 und macht deutlich, dass alle weitergehenden Annäherungen von der Verwirklichung der Menschenrechte, dem Minderheitenschutz sowie den demokratischen und wirtschaftpolitischen Entwicklungen abhängen. Dabei erkennt die FDP die bereits gemachten Fortschritte an, sieht aber weiterhin erhebliche Defizite und konstatiert, dass auch die EU ihrerseits noch nicht reif sei für einen Beitritt. Für die SPD ist eine Aufnahme der Türkei eine Selbstverständlichkeit, sofern diese das europäische Wertesystem in ihre Rechtsordnung und Politik übernimmt. Ferner könnte das Land zur Verbesserung der Beziehungen zu ihren südlichen Nachbarn und anderen muslimischen Ländern beitragen. Die Grünen beziehen deutlich Stellung für einen Beitritt der Türkei. Sie konstatieren »Die Türkei gehört dazu« und berufen sich auf die Werteordnung der EU. Eine Aufnahme der Türkei würde Modellcharakter haben, indem sie beweist, dass sich Islam, Demokratie und Menschenrechte nicht ausschließen, sondern vielmehr für eine Annäherung zwischen westlich und islamisch geprägten Ländern sorgt. Die Grünen haben anlässlich der Europawahl im Juni 2004 eine Wahlzeitung ganz in türkischer Sprache herausgegeben. In Europa werden ähnliche Positionen vertreten. Die wichtigsten Befürworter eines Beitritts sind die deutsche, britische und italienische Regierung, wohingegen Frankreich bislang unentschieden ist.
In der deutschen Bevölkerung ist das Thema Türkei nur schwerlich von dem Bild türkischer EinwanderInnen zu lösen und ist nachweislich vermischt mit Emotionen, Ängsten und Vorurteilen. Vielfach werden bei Befragungen einseitige Argumente hervorgebracht oder auf eigene Erfahrungen mit türkischen MitbürgerInnen zurückgegriffen, die in der Furcht vor einer weiteren Arbeitsimmigration im Falle eines EU-Beitritts gipfeln. Unabhängig von wirtschaftlichen und politischen Erwägungen, wird daher vielmehr die Frage nach der Religion und der kulturellen Identität des Landes gestellt und auf dessen Lage außerhalb Europas verwiesen. Ob die Türkei oder nur ein kleiner Teil von ihr europäisch ist, ob Europa in geographischer, historischer oder religiöser Hinsicht die Türkei einschließt, wird seit langem auch in den großen Feuilletons kontrovers, aber ebenso ergebnislos debattiert.
Die Entscheidung ist offen und spannend, die Spielregeln sind bekannt. Wichtig ist, und diese Ansicht teilt der amtierende EU-Ratsvorsitzende und niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende, dass mit der Türkei fair gespielt wird, und sie objektiv anhand der Kopenhagener Kriterien bewertet wird; frei von Vorurteilen, Ängsten und Emotionen oder zusätzlichen Bedingungen. Denn eine einfache Berufung auf kulturelle und religiöse Argumente widerspräche den europäischen Prinzipien, die sich unter anderem im bewussten Verzicht auf christliche Werte in der Präambel des Verfassungsentwurfs zeigt.