Ein Nachruf birgt einen Schlussstrich. Im Falle des Unruhestifters Derrida ist ein Schlussstrich aber nicht möglich. Die Unruhe, die von diesem Philosophen ausging, verhindert einen Endsatz. Sie wühlt weiter im Denken unserer Zeit.
Jacques Derrida wurde am 15. Juli 1930 in Algerien geboren und starb am 8. Oktober 2004 in Frankreich. Auch wenn er dort den Großteil seines Lebens verbrachte, blieb er immer der Außenseiter, der jüdische Algerier. Die Konservativen begegneten ihm mit offener Feindschaft, die Linken mit Misstrauen. Derrida fand seine »Gefolgschaft« zunächst bei denen, die von beiden enttäuscht waren. Seiner Philosophie haftete bis zum Schluss eine Heimatlosigkeit an, die sich zunächst nur in radikalen Ressentiments gegenüber Traditionen, Konventionen und den verschiedensten Formen von Herrschaft äußerte.
Versucht man, seine Schriften so gründlich zu lesen, wie er selbst die Schriften anderer neu gelesen hat, so fällt die seltene Präzision dieser Texte auf. Heimatlos ist dieses Denken, schwer zugänglich ebenfalls, aber immer stärker taucht in ihm eine Form der Hoffnung auf, die »Heimat« bei aller Kritik und aller Entfernung doch nicht zu verlieren. Derridas Philosophie zerstört nicht, wie es ihr oft vorgeworfen wurde. Sie sucht neue Blickwinkel und Perspektiven auf das Alte, auf Kultur, Politik und Philosophie.
Zumeist am Rande des Denkens operierend ist Derridas Philosophie Guerilla-Philosophie, seine Politik Guerilla-Politik. Beides entsprang den Nachbeben der Revolution von 1968, jedoch in Distanz zu ihr. In einer Zeit, als die Konservativen und die Linken einmütig Welt und Menschheit unter sich aufgeteilt hatten, blieb Derrida bewusst auf der Grenze stehen, ohne aber unpolitisch zu sein. Zwar zählte er wohl zur Linken, blieb aber der Kommunistischen Partei Frankreichs zeitlebens fern, was ihm von MarxistInnen vorgeworfen wurde, während die Konservativen dies für sich auszunutzen suchten. Hätte man seine Texte gründlicher gelesen, so wäre einem diese Zurückhaltung nicht nur nicht verwerflich, sondern sogar sinnvoll erschienen.
Was Derrida ausmacht, ist das grundlegende Misstrauen gegenüber allen Formen der Vereinnahmung, Vereinheitlichung und Totalisierung. Im jahrtausendealten philosophischen Streit zwischen einem Denken, das alles mit allem identifizieren (synthetisieren) will, und einem Denken, das differenziert und jedwede Form der Synthetisierung ablehnt, steht er auf Seiten der Differenz. Jemand, der das totalisierende Identitätsdenken verweigert, lehnt auch das Identifiziertwerden mit der einen oder anderen Seite ab. Für Derrida hat es nie den einen Marxismus gegeben, da es auch nie nur den einen Marx gegeben hat. Und so greift seine Philosophie in die inneren Brüche ein, die jedem vermeintlich kohärenten Denken innewohnen, deckt Widersprüche und so das Wesentliche der Philosophie und der politischen Ideologien auf.
Er selbst bezeichnet dieses Denken als »Dekonstruktion«, und dieser Name, eine Einheit von »Destruktion« und »Konstruktion«, könnte passender nicht sein. Indem nämlich Derrida zwischen den Zeilen liest, an den Ecken und Kanten der Philosophie forscht, zerstört er sie nicht einfach. Er kehrt um, verschiebt und wird nicht müde, immer wieder neue Lesarten aufzudecken. Theorien, die bis zuletzt als eindeutig galten, zeigen plötzlich neue Seiten, ohne aber verfälscht worden zu sein. Die Dekonstruktion birgt eine ungeheure Kreativität. Gewiss hat man beim Lesen das Gefühl, als säge man am Ast, auf dem man sitzt. Und wenn man einmal durch die »Schule« des Derridaschen Denkens gegangen ist, so liest man die früheren Texte nicht mehr mit alter monotoner Sicherheit. Aber die Lektüren enden nicht in Schwindel erregender Heimatlosigkeit, sondern in der Gewissheit, etwas Neues zu entdecken, eine andere Art des Denkens und der Unruhe, die solche Gewissheit bringt. Es ist diese bleibende Unruhe, die einen Schlussstrich unmöglich macht. Egal, ob Derrida nun tot ist oder nicht.
Daniel Raboldt ist Mitorganisator des Philosophiesalons im Café Duddel.