Die Geburt der Dritten Welt

Der Zusammenhang von El Niño, Imperialismus und Hungersnöten Von Gerd Riesselmann

Ende des 19. Jahrhunderts starben weltweit zwischen dreißig und sechzig Millionen Menschen an Hunger und hungerbedingten Seuchen, als eine gewaltige Dürre die Tropen erfasste. Die natürliche Ursache für die ungewöhnliche Trockenheit ist mittlerweile bekannt: El Niño, eine Klimaanomalie, die sich hauptsächlich zwischen der Westküste Südamerikas und dem südostasiatischen Raum ereignet. Hier kommt es in zwei- bis siebenjährigen Abständen zu Umkehrungen der normalen Wettersituation. Aber reicht das Klima als Ursache für eine solche Katastrophe wirklich aus?

Nein, argumentiert der amerikanische Soziologe und Historiker Mike Davis in seiner Studie Die Geburt der dritten Welt. Dürren habe es auch vorher gegeben, allerdings seien diese nicht in extreme Hungersnöte gemündet. Vielmehr bedeutete die Eingliederung in den von England dominierten Weltmarkt, der Imperialismus und eine dogmatische Auslegung liberaler Wirtschaftstheorien für Millionen BewohnerInnen der Tropen das Todesurteil.

Davis verweist auf den Verlauf der Hungersnöte in Indien. Während in einigen Teilen des Landes dürrebedingte Missernten auftraten, wurden in anderen Gebieten fruchtbare Ernten eingefahren. Da die englische Kolonialherrschaft aber auf die Gesetze des Marktes vertraute, statt auf Hilfslieferungen und Unterstützung der Not leidenden Bevölkerung zu setzen, zog der Getreidepreis so stark an, dass sich die Hungersnot auch auf Gegenden mit Nahrungsüberschuss ausdehnte. Die notwendigen Nahrungsmittel wurden zu Spekulationszwecken gehortet; KleinbäuerInnen waren gezwungen, Haus, Vieh und Land zu verkaufen.

In der Kolonialverwaltung wurde das reale Ausmaß der Hungersnot heruntergespielt. Die Senkung oder Aussetzung der Pachtsteuer wurde ebenso abgelehnt wie eine Minderung der Getreideexporte nach England. Stattdessen legte man ein Zwangsarbeitsprogramm auf: In Arbeitslagern nötigte man die Menschen für einen Hungerlohn und marginale Essensrationen Schwerstarbeit zu leisten; die zusammengepferchten und geschwächten InsassInnen wurden durch Seuchen zu Tausenden hinweggerafft.

In China verliefen die Ereignisse ähnlich. Hier liegen allerdings Dokumente über den früheren Umgang mit Nahrungsmittelknappheiten vor. Davis zeigt, dass im 17. und 18. Jahrhundert ein ausgeklügeltes Konzept von Hilfslieferungen bestand, das im Wesentlichen auf dezentralen Getreidespeichern und einem intakten Wasserwegesystem basierte. Mit der Integration Chinas in den Weltmarkt und der folgenden Verschuldung durch die Entwertung des Silbers im Zuge der Einführung des Goldstandards blieb davon jedoch nichts mehr übrig. Als 1876/77 Millionen von Menschen in China verhungerten, waren die meisten Schifffahrtswege versandet und die Kornspeicher leer.

Davis schildert detailreich die Zusammenhänge zwischen Armut, Hunger und der imperialen Weltwirtschaft. Die Geburt der Dritten Welt ist eine Geschichte des Imperialismus, die den Blick von den Metropolen zur Peripherie wendet, und ist 2002 völlig zu Recht mit dem World History Association Book Award ausgezeichnet worden.

Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Assoziation A, Berlin 2004, 29,50 Euro.