Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, einfach auszubrechen aus seinem Alltag, wegzulaufen und alles hinter sich zu lassen? Raimund Gregorius, Protagonist in Pascal Merciers Roman Nachtzug nach Lissabon, tut es. Verlässlich wie der Fels in der Brandung und immer pünktlich stellt der Altphilologe als Lehrer für Griechisch, Latein und Hebräisch eine Art Institution in einem Berner Gymnasium dar. Von SchülerInnen und KollegInnen nur »Mundus« genannt, liebt er es, sich in seiner eigenen Welt an der poetischen Schönheit hebräischer Worte zu erfreuen und insgeheim manchmal vom fernen Orient zu träumen. Bis sich eines Tages alles ändert.
Nach der Begegnung mit einer geheimnisvollen portugiesischen Frau, die er morgens auf seinem Weg zur Schule trifft und die sich offenbar von einer Brücke stürzen möchte, stellt sich Gregorius auf einmal mitten im Unterricht die Frage, ob er so weitermachen möchte. Die ehrliche Antwort, die er sich selbst gibt, lautet nein, und so verlässt er ohne ein Wort der Erklärung den Klassenraum und kehrt seinen geliebten Schulbüchern, seinen SchülerInnen und seinem bisherigen Leben den Rücken.
Verzaubert vom Klang des Wortes português und von dem Buch eines portugiesischen Arztes und Philosophen namens Amadeu Inácio de Almeida Prado, der über die Erfahrungen des menschlichen Lebens schreibt, bricht Gregorius nur wenige Stunden später mit dem Nachtzug nach Lissabon auf. Kaum dort angekommen macht er sich auf die Suche nach Spuren des inzwischen verstorbenen Amadeu de Prado. In zahlreichen Gesprächen mit FreundInnen und Verwandten des Toten, die er nach und nach ausfindig macht, versucht Gregorius, dessen bewegtes Leben nachzuempfinden. Langsam zeichnet sich sowohl für ihn als auch für die LeserInnen ein Bild des innerlich zerrissenen Sohns aus gutem Hause ab, der Jahrzehnte zuvor einem der Bluthunde Salazars das Leben rettete und daraufhin als selbstauferlegte Buße in den Widerstand ging.
Durch die neuen Eindrücke, Erfahrungen und nicht zuletzt auch all die Menschenschicksale, die sich ihm nach und nach beinahe aufdrängen, nimmt die Veränderung von Gregorius ihren Lauf, ohne dabei jedoch unglaubwürdig zu werden. Als die Kette der Menschen, die etwas über de Prado zu erzählen haben, allmählich bemüht wirkt, lässt Mercier seinen Helden in die Schweiz zurückkehren, wo dieser jedoch schnell feststellen muss, dass die Umwelt manchmal nicht mit den Veränderungen, die wir durchlaufen, Schritt halten kann.
Mit viel Einfühlungsvermögen beschreibt der Autor die Suche nach einer neuen Identität über den Schatten eines anderen, geradezu übermächtigen Menschen. Die Liebe zu Sprachen, den alten erhabenen und den eleganten jungen, lässt sich aus beinahe jeder Zeile herauslesen, und Sätze, denen man nach ausgiebigem Nachdenken nicht anders als zustimmen kann, machen diesen Roman zu einem Buch, das man nicht ohne weiteres wieder aus der Hand legen möchte.
Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, Carl Hanser Verlag, Wien 2004, 24,90 Euro.