Ein Gespenst geht um in Europa. Im Entwurf für eine neue EU-Verfassung haben KritikerInnen zahlreiche Defizite ausfindig gemacht: zu wenig Demokratie, neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sowie die Verpflichtung zur militärischen Aufrüstung einer EU-Streitmacht. Eine nennenswerte Mobilisierung gibt es in Frankreich, wo Gewerkschaften, linke Parteien und Kulturschaffende die treibende Kraft sind. Mit der Parole »EU-Verfassung nein, Europa ja« ist es ihnen gelungen, in Umfragen die Mehrheit der französischen Bevölkerung für ein »Nein« zum Referendum über den Verfassungsvertrag am 29. Mai zu gewinnen.
Auch in Deutschland haben sich im April rund um den rechtskonservativen CSU-Politiker Peter Gauweiler GegnerInnen zu Wort gemeldet. Sie zielen zwar vordergründig auch auf das Demokratiedefizit in der EU-Verfassung, aber Gauweiler will mit seinem Vorstoß eher nationalistische Ressentiments bedienen. Unter anderem moniert er, in der EU sei die deutsche Sprache unterrepräsentiert, das bundesdeutsche Grundgesetz und die nationale Souveränität würden unterhöhlt und die Türkei müsse wegen ihrer muslimischen Bevölkerung außen vor bleiben.
Spät, wenn auch nicht zu spät, versuchen nun auch in Deutschland linke KritikerInnen, sich Gehör zu verschaffen. Alleine drei Aufrufe kursieren in einschlägigen Internetforen und Mailinglisten. Unter anderem sammeln der bundesweite Friedensratschlag und der wissenschaftliche Beirat des globalisierungskritischen Netzwerks Attac Unterschriften. Der dritte Aufruf ist die Übersetzung des französischen »Appells der 200«, der in Frankreich mittlerweile von etwa eintausend regionalen Komitees verbreitet wird. Im »Appell der 200 Europäer« heißt es nun: »Das linke französische Nein soll unser Nein sein, damit ein anderes Europa möglich wird.« Prominente Kulturschaffende, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen aus verschiedenen EU-Staaten sollen zur Unterstützung bewogen werden. Denn in Frankreich versuchen Regierungs- und OppositionspolitikerInnen, den GegnerInnen einzureden, sie seien in Europa hoffnungslos isoliert.
Die Mehrheit für ein »Nein« zeichnet sich auch in Umfragen für die Volksabstimmungen in den Niederlanden und Großbritannien ab. Allerdings ist schwer auszumachen, ob es sich dort mehrheitlich um »Nein-SagerInnen« im Sinne Peter Gauweilers oder der französischen Linken handelt. Sollten die Franzosen am 29. Mai mit »Nein« stimmen, gibt es ohnehin Bestrebungen, die Referenden in diesen Ländern auszusetzen.
Wie kommt es, dass in Frankreich so viele gegen die EU-Verfassung sind? Ganz einfach: Sie haben den Verfassungsvertrag gelesen. Linke Parteien, Initiativen und Gewerkschaften haben ihn verteilt und ihre Mitglieder aufgefordert, genau hinzusehen. In Deutschland hat mit Ausnahme des Friedensratschlags, Attac und der PDS niemand Kritik an der EU-Verfassung geübt, wie sie nun in Frankreich zu hören ist. Und die Gewerkschaftsführungen hierzulande hielten mit Rücksicht auf die Regierungskoalition still, die außer der Agenda 2010 die Europäische Verfassung zu ihrem zentralen politischen Projekt ausgerufen hatte. Der DGB ging sogar so weit, die Verfassung als einen Schritt vorwärts zu bezeichnen, mit einigen handwerklichen Fehlern, zugegeben, die jedoch nach der Ratifizierung noch modifiziert werden könnten. Hingegen meint Attac, dieser Vertrag versperre den Raum für Alternativen und sei nicht zukunftsfähig. Denn laut Verfassungsvertrag sei eine Änderung nur möglich, wenn alle Mitgliedsstaaten der EU einem neuen Vertrag zustimmen. Bei derzeit 25 und in Zukunft vielleicht noch mehr Mitgliedsstaaten ist eine nachträgliche Abänderung völlig realitätsfern.
Wenn das Referendum am 29. Mai in Frankreich scheitert, gilt der Vertrag von Nizza weiter. Es bliebe zunächst also beim Status quo und der Raum für Alternativen zum derzeitigen EU-Verfassungsvertrag wäre geöffnet. Mit einem Fest auf der Place de la Bastille, für das die französischen GegnerInnen auch ihre GesinnungsfreundInnen aus anderen europäischen Ländern nach Paris einladen, wollen sie unterstreichen, dass eine neue Verfassung von der Bevölkerung in der EU ausgehandelt wird - und nicht von einem kleinen Kreis handverlesener PolitikerInnen.
Gerhard Klas arbeitet im Rheinischen JournalistInnenbüro.