Es ist 7.07 Uhr in der Früh, als die Nachricht auf meinem Handy eintrifft und einen Piepston auslöst: »Es wird schon wieder ein Squat geräumt. Rue de la Fraternité im 19. Arrondissement. Wer verfügbar ist, soll schnell kommen.« Verhindern lässt sich die Räumung an diesem Morgen allerdings nicht. Sechzig BewohnerInnen des Squats werden vor die Tür gesetzt.
Ein Squat ist ein besetztes Gebäude. Anders als bei Hausbesetzungen in Deutschland in den Achtziger- und Neunzigerjahren wohnen darin in der Regel keine Angehörigen der Alternativszene, sondern proletarische Familien, die meisten aus Afrika. Auf dem so genannten freien Wohnungsmarkt haben sie kaum Chancen, obwohl die allerwenigsten unter ihnen von Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe leben. Oft arbeiten sie, sofern sie über legale Aufenthaltstitel verfügen, sogar im städtischen Dienst, beispielsweise bei der Straßenreinigung. Viele Schwarze stehen allerdings auf der untersten sozialen Stufe, jedenfalls sofern sie aus der ersten EinwanderInnengeneration stammen. Wer von ihnen mit legalen Papieren arbeitet, verdient gewöhnlich den gesetzlichen Mindestlohn, das sind derzeit brutto knapp über 1200 Euro.
Eine Einzimmerwohnung, die weniger als fünfhundert Euro Miete kostet, braucht man derzeit innerhalb von Paris gar nicht erst zu suchen, und im unmittelbar an die Hauptstadt angrenzenden Teil der Banlieue (Vorstadtzone) liegt die Höhe der Mieten kaum darunter. Das Gesetz schreibt zudem vor, dass neu einziehende MieterInnen das Dreifache der Wohnungsmiete im Monat verdienen sollen, in der Praxis verlangen die MaklerInnen häufig noch mehr. Arm zu sein ist also auf dem derzeitigen Wohnungsmarkt nicht zu empfehlen - schwarz zu sein dazu noch weniger.
Im vorigen Jahr wurde geschätzt, dass rund fünftausend Menschen allein im Pariser Großraum deswegen in Squats leben, in der Mehrzahl als Familien. Solche besetzten Häuser liegen meist in heruntergekommenen Gegenden, oft am Stadtrand von Paris oder in Vorstädten.
Seit Ende August ist das Thema überall präsent. Eine Serie von Bränden in baufälligen Häusern, darunter auch ein Squat, löste in einem Teil der französischen Öffentlichkeit Empörung über die Lebensbedingungen vieler armer und rassistisch diskriminierter Menschen aus. In der letzten Augustwoche brannte zuerst ein heruntergekommenes Wohnhaus am Boulevard Vincent Auriol, im südlichen Zentrum von Paris. Die BewohnerInnen waren von der Stadtverwaltung 1991 »provisorisch« in dieser Bruchbude untergebracht worden, nachdem sie zuvor die Baustelle der heutigen Nationalbibliothek besetzt hatten. Sie berichteten, wie sich die Ratten in dem Haus jagten und die elektrischen Drähte lose von den Wänden baumelten. Das »Provisorium« dauerte 14 Jahre.
Nach einem weiteren Brand, der die Zahl der Todesopfer auf 24 erhöhte, begann die Öffentlichkeit, über die offenkundig menschenunwürdigen Verhältnisse zu debattieren, in denen viele MigrantInnen leben. Das besetzte Haus hatte wahrscheinlich durch einen Unfall mit defekten elektrischen Leitungen Feuer gefangen. Dagegen geht die Staatsanwaltschaft bei dem Brand am Boulevard Vincent Auriol inzwischen von Brandstiftung aus. Es wird auch vermutet, dass es sich um einen »warmen Abbruch« gehandelt haben könnte, hinter dem wirtschaftliche Interessen stehen.
Für die Regierung war die Sache schnell klar. So gab Innenminister Nicolas Sarkozy nach dem zweiten Brand indirekt den Opfern die Schuld: »Die Probleme resultieren daraus, dass viele Leute mit Wohnungsproblemen, darunter einige illegale Einwanderer, sich in Paris zusammenballen.«
Dagegen wusste er freilich Abhilfe, die er noch dazu unter dem Vorwand, er wolle ja nur »neue Katastrophen« verhindern, rechtfertigen konnte: Eine große Offensive gegen die Squats in der französischen Hauptstadt. Sarkozy verkündete, die ihm unterstehenden Polizeibehörden hätten eine Liste von sechzig »gefährlichen Objekten« erstellt. Diese seien in kürzester Frist, notfalls gewaltsam, zu räumen. Die Ankündigung des Innenministers hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Er fügte nicht hinzu, wohin die betroffenen Menschen gehen sollten. Auch sein Kollege, Sozialminister Jean-Louis Borloo, kündigte an, im Namen des Kampfs gegen unzumutbare Wohnverhältnisse in den kommenden fünf Jahren insgesamt 25000 Sozialwohnungen abzureißen. So sollen bis 2009 mehrere große Plattenbauten in der Pariser Trabantenstadt La Courneuve gesprengt werden.
Zwei Tage nach der Ankündigung folgen dann Taten. Am frühen Morgen des 2. September fahren Räumkommandos der Polizei an zwei Orten in Paris gleichzeitig auf, im nördlichen 19. Arrondissement und im 14. Bezirk, der im äußersten Süden liegt. Im Norden werde ich Zeuge, wie eine Hundertschaft der Polizei an die Tür einer ehemaligen Lernwerkstatt für Behinderte »klopft«, in der mehrere afrikanische Familien leben. Der Vorwand, es gelte durch die Räumung präventiv eine Katastrophe zu verhindern, ist offenkundig fadenscheinig: Es waren bereits Renovierungsarbeiten vorgenommen worden, und für kommenden März hatte die Bezirksregierung sogar alternative Räumlichkeiten für die BewohnerInnen in Aussicht gestellt. Zudem war das Gelände vor kurzem von einem Grundstücksspekulanten aufgekauft worden, der nunmehr Druck auf die Regierung ausübt, da er schnell Geld zu machen wünscht.
Eine Woche später piepst mein Telefon erneut frühmorgens: wieder eine Räumung im 19. Arrondissement, dieses Mal an der Place du Maroc. Das ist in meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Die Bilder gleichen sich. Ein Großaufgebot an blau Uniformierten steht vor einem Haus mit abgeblätterter Fassade, das wohnlich sein könnte, wenn es renoviert würde. Dahinter machen sich zwei Maurer - selbst Immigranten - daran, die Eingangstüren mit Backsteinen und Gips zu versiegeln. Zwei Familien mit Kindern und zwei weitere Westafrikaner werden unsanft nach draußen befördert.
Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Probleme in absehbarer Zeit kleiner werden. Nach offiziellen Angaben stiegen die Mieten in Frankreich von 2001 bis 2004 um durchschnittlich 14,2 Prozent. Für das kommende Jahr werden weitere 4,7 Prozent prognostiziert. Der schreiende Mangel an Sozialwohnungen wird nicht geringer. Zwar schreibt ein Gesetz vor, dass alle Kommunen des Landes mindestens zwanzig Prozent Sozialwohnungen zur Verfügung stellen müssen. Doch die gegenwärtige Regierung wendet die Vorschriften, nach denen sie den säumigen Kommunen Geldbußen auferlegen könnte, schlichtweg nicht an. 762 mittlere und größere Städte erfüllen die Vorgaben des Gesetzes nicht. Eine der säumigsten Kommunen ist der Pariser Nobelvorort Neuilly-sur-Seine. Ihr Bürgermeister heißt Nicolas Sarkozy.
Bernhard Schmid lebt und arbeitet als Journalist in Paris. Der Artikel erschien in Jungle World Nr. 39, www.jungle-world.com.