Sonnenstrahlen scheinen durch das Glas auf die Tomaten in einem Washingtoner Gewächshaus. Das Licht bleicht langsam die Züge eines hageren älteren Mannes mit starken Augenringen und Segelohren aus. So oder ähnlich hätte die letzte Porträtaufnahme von Abraham Lincoln enden können, die am 13. April 1865 gemacht wurde.
Obschon die Fotografie bereits weit genug entwickelt war, um den vier Tage zuvor beendeten amerikanischen Bürgerkrieg zum ersten umfassend in Bildern dokumentierten Krieg werden zu lassen, war die Technik immer noch recht umständlich. Die Negative bestanden nach wie vor aus Glasplatten. Waren von einer Aufnahme ausreichend Abzüge erstellt oder war ein Bild nicht gelungen, wurden die sperrigen Platten ausgemustert und oftmals als Fenster in Gewächshäusern weiter verwendet. Über die Jahre verblassten so immer mehr Bürgerkriegsbilder, von nahezu idyllisch anmutenden Campszenen bis zu verwüsteten Schlachtfeldern, über Azaleen und Salatköpfen.
Die letzte Aufnahme des 16. Präsidenten der USA wäre beinahe nicht erhalten geblieben und vielleicht direkt in einem Garten eingesetzt worden. Am 12. April 1865, dem Tag der offiziellen Kapitulation der Südstaaten, hatte Lincoln noch an den Feierlichkeiten in Washington teilgenommen. Am nächsten Tag ging er in das Atelier von Alexander Gardner, um sich fotografieren zu lassen. Das Bild zeigt einen von vier Jahren Krieg und dem Tod seines elfjährigen Sohnes gezeichneten, erschöpften Mann. Bei der Entwicklung sprang jedoch die Glasplatte, der Sprung zog sich quer über die Stirn des Präsidenten. Gardner stellte nur einen einzigen Abzug her und warf das Negativ dann weg. Lincoln hatte ja gerade erst seine zweite Amtszeit angetreten, in den folgenden vier Jahren würde es sicher noch genug Gelegenheiten geben, bessere Aufnahmen von Lincoln zu machen.
Am Abend des 14. April besuchte Lincoln zusammen mit seiner Frau die Komödie Our American Cousin im Washingtoner Ford-Theater und schien das Stück zu genießen. Bis John Wilkes Booth mit Dolch und Pistole in die Präsidentenloge stürmte und auf Lincoln schoss. Die Kugel drang in Lincoln Hinterkopf ein und blieb hinter dem rechten Auge stecken. In den Morgenstunden des 15. April 1865 verstarb Abraham Lincoln im Alter von 56 Jahren. Die missglückte Aufnahme von Alexander Gardner blieb damit das letzte Foto, das von Lincoln gemacht wurde.